Recht

Aktuelle Urteile des EuGH zum Rücktritt von Pauschalreisen aufgrund der Corona-Pandemie

Mit seinen neuesten Urteilen vom 29. Februar 2024 hat der EuGH mehrere offene Fragen rund um den pandemiebedingten Rücktritt von Pauschalreisen geklärt.

Konnte der Kunde die Pauschalreise stornieren?

a) Rechtlicher Hintergrund

Der / die Reisende kann vor dem Antritt der Pauschalreise von dem Vertrag zurücktreten und der Reiseveranstalter kann dann eine angemessene Entschädigung verlangen (sog. Stornogebühr).
Nur in Ausnahmefällen kann der / die Reisende kostenfrei von der Reise zurücktreten. Eine solche Ausnahme besteht entweder, wenn dies vertraglich mit dem Reiseveranstalter vereinbart wurde, oder wenn die Voraussetzungen des § 651 h Absatz 3 BGB vorliegen.
Ein kostenfreier Rücktritt ist nach § 651 h Absatz 3 BGB möglich, wenn am Reiseort beziehungsweise in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, welche die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Reiseort erheblich beeinträchtigen.
Diese Vorschrift hat viele Fragen aufgeworfen, die zum Teil auch in der Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet wurden.
In ihren aktuellen Urteilen haben der Europäische Gerichtshof (EuGH) und der Bundesgerichtshof (BGH) einige dieser Fragen geklärt.

b) Urteile des EuGH vom 29. Februar 2024

Am 29. Februar hat der EuGH in zwei Verfahren über mehrere Streitpunkte im Zusammenhang mit dem pandemiebedingten Rücktrittsrecht entschieden.

aa) Urteil C-299/22 (Tez Tour)

Im Urteil Tez Tour befasst sich der EuGH insbesondere mit dem Begriff der „unvermeidbaren außergewöhnlichen Umstände“.

Ist Voraussetzung für unvermeidbare außergewöhnliche Umstände eine behördliche Reisewarnung oder eine Einstufung als Risikogebiet?

Der EuGH verweist auf die zugrunde liegende Richtlinie, in der es heißt: „zum Beispiel Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus, erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben oder Witterungsverhältnisse, die eine sichere Reise an das im Pauschalreisevertrag vereinbarte Reiseziel unmöglich machen“.
Eine Reisewarnung oder eine Einstufung als Risikogebiet hält der EuGH nicht für erforderlich.
Zwar könnten behördliche Empfehlungen und Beschlüsse einen erheblichen Beweiswert dafür haben, dass unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände und die damit verbundene Beeinträchtigung der Pauschalreise aufgetreten sind. Umgekehrt könne man aus ihrem Fehlen allein jedoch nicht den Schluss ziehen, dass keine solchen Umstände aufgetreten sind.

Welche Umstände können erfasst sein? Können persönliche Faktoren eine Rolle spielen? Auf wessen Sicht ist bei der Beurteilung abzustellen?

Eine Gesundheitskrise wie die Coronapandemie mit ihrem erheblichen Gesundheitsrisiko kann laut EuGH eine erhebliche Beeinträchtigung sein.
Persönliche Faktoren wie ein Reisen mit Kindern oder die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe können sich auf die Schwere der Beeinträchtigung auswirken. Sie können daher bei der Feststellung, ob unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen, berücksichtigt werden.
Für die Beurteilung stellt der EuGH auf den Zeitpunkt des Rücktritts ab.
Die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit und der Erheblichkeit dieser Beeinträchtigung ist aus der Sicht eines normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsreisenden vorzunehmen.

Kann ein Reisender eine Situation, die er zum Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags bereits kannte oder vorhersehen konnte, dennoch als unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände geltend machen?

Grundsätzlich kann ein Reisender eine Situation, der er zum Zeitpunkt des Abschlusses des Pauschalreisevertrags bereits kannte oder vorhersehen konnte, nicht als unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände geltend machen.
Allerdings weist der EuGH darauf hin, dass sich die Situation aufgrund ihrer Unbeständigkeit nach Abschluss des Pauschalreisevertrags dermaßen verändert haben kann, dass eine neue Situation entstanden ist. Diese könne dann als solche „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände“ darstellen.

Können auch Umstände am Abreiseort und an anderen Orten erfasst sein?

Nach dem Richtlinien- bzw. Gesetzestext müssen die Umstände „am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe“ auftreten.
Laut EuGH kann jedoch die durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände verursachte Beeinträchtigung auch dann berücksichtigt werden, wenn sie über den Bestimmungsort hinausgeht, zum Beispiel der Abreise- oder Rückreiseort oder Orte von Zwischenstatonen sowie Anschlussverbindungen. So sei es insbesondere möglich, dass am Abreiseort als Folge der am Bestimmungsort herrschenden Umstände Maßnahmen wie etwa Beschränkungen für an den Abreiseort zurückkehrende Reisende ergriffen würden. Diese würden dann in die Beurteilung, ob die Durchführung des betreffenden Pauschalreisevertrags erheblich beeinträchtigt wird, einfließen.

bb) Urteil C-584/22 (Kiwi Tours)

Das ebenfalls am 29. Februar 2024 erlassene Urteil C-584/22 „Kiwi Tours“ des EuGH beruht auf einer Vorlage durch den BGH (Beschluss vom 02.08.2022, Aktenzeichen X ZR 53/21). Darin ging es um die Frage, ob es für die Feststellung, ob „unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände aufgetreten sind, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen“ nur die Situation zu berücksichtigen ist, die zum Zeitpunkt des Rücktritts bestand, oder auch Umstände, die erst nach diesem Zeitpunkt, aber vor Beginn der Pauschalreise, auftreten.
Der EuGH verweist zunächst auf das Tez-Tour-Urteil und bestätigt, dass aus der Sicht eines normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsreisenden zu prüfen sei, ob er vernünftigerweise annehmen konnte, dass die unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände, auf die er sich beruft, die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort wahrscheinlich erheblich beeinträchtigen würden.
Der EuGH stellt ausschließlich auf den Zeitpunkt des Rücktritts ab.
Erst nach dem Rücktritt auftretende Umstände können laut EuGH nicht berücksichtigt werden

c) Urteile des BGH

In seinem Urteil vom 30. August 2023 (X ZR 66/21) hat der BGH mehrere Aussagen getroffen, die auch nach den EuGH-Urteilen von 2024 weiter gelten dürften:
  • Ob eine erhebliche Beeinträchtigung der Reise vorliegt, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beantworten. Eine Anwendung mathematischer Methoden ist daher nicht möglich.
  • Eine erhebliche Beeinträchtigung kann zu verneinen sein, wenn die Teilnahme an der Reise mit keinem unzumutbaren Infektionsrisiko verbunden ist – zum Beispiel, wenn ein enger Kontakt mit anderen Personen nicht zu erwarten ist (wie bei einer Unterkunft in Ferienhäusern oder -wohnungen und Anreise mit einem Mietwagen).
  • Eine Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für den Reisezeitraum stellt in der Regel ein erhebliches Indiz für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände am Reiseort dar.
  • Eine befristete Reisewarnung ist als eher geringes Indiz zu werten, wenn nicht absehbar ist, ob die Warnung verlängert wird, und zwischen dem Fristende und dem Beginn der Reise noch geraume Zeit verbleibt. Endet die Frist jedoch nur wenige Tage vor dem geplanten Reisebeginn, ist es dem Reisenden nicht ohne weiteres zumutbar, die weitere Entwicklung abzuwarten. Dies kann es rechtfertigen, der Reisewarnung trotz ihrer Befristung ein stärkeres Gewicht beizumessen.
  • Zu berücksichtigen sein können auch Stellungnahmen fachkundiger Stellen wie etwa des Robert-Koch-Instituts (RKI) oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder sonstige Äußerungen und Meldungen, die hinreichend zuverlässig Aufschluss über zu erwartende Gefahren und Beeinträchtigungen geben.
  • Die Tatsache, dass das gebuchte Hotel geschlossen ist und die Unterbringung in einem anderen Hotel hätte erfolgen müssen, begründet für sich genommen noch keine Unzumutbarkeit. Es ist eine Gesamtwürdigung aller Umstände vorzunehmen. Dabei kann die Unterbringung in einem anderen Hotel einen Mangel der Reise darstellen, der jedoch nicht erheblich ist und somit keinen kostenfreien Rücktritt zulässt. Ob eine erhebliche Beeinträchtigung vorliegt, ist aufgrund einer an Zweck und konkreter Ausgestaltung der Reise sowie an Art und Dauer der Beeinträchtigung orientierten Gesamtwürdigung zu beurteilen. Neben dem Anteil des Mangels in Relation zur gesamten Reiseleistung kann dabei auch von Bedeutung sein, wie gravierend sich der Mangel für den Reisenden auswirkt (BGH, Urteil vom 30.08.2022, X ZR 84/21).

d) Was ist mit Stornierungen im weiteren Verlauf der Pandemie?

Die bislang ergangenen Urteile beziehen sich, soweit ersichtlich, alle auf die „erste Welle“ im Frühjahr 2020 oder auf den Sommer 2020 und somit häufig auf Reisen, die zu einem Zeitpunkt gebucht wurden, als man noch nichts von der Pandemie ahnte.
Die rechtlichen Bewertungen für Konstellationen aus dem weiteren Verlauf der Pandemie können anders ausfallen als für die „erste Welle“. Zum Beispiel, weil bei einem späteren Buchungszeitpunkt die Pandemie bereits bekannt war. Jedoch gibt es auch neue Problemstellungen, wie Quarantäneregelungen usw.

Kann der Reiseveranstalter die Pauschalreise stornieren?

Auch hier hilft § 651h BGB weiter: Der Reiseveranstalter kann vor Reisebeginn vom Vertrag zurücktreten, wenn er aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrages gehindert ist. Er hat den Rücktritt unverzüglich nach Kenntnis von dem Kündigungsgrund zu erklären. Tritt er vom Vertrag zurück, verliert er den Anspruch auf den Reisepreis.

Kann der Pauschalreisende den Reisepreis mindern?

Der Pauschalreisende hat einen Anspruch auf Minderung des Reisepreises, wenn die Pauschalreise durch Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie an seinem Reiseziel beeinträchtigt wurde (EuGH, Urteil vom 12.01.2023, C-396/21). Dabei ist es unerheblich, dass die Vertragswidrigkeit nicht vom Reiseveranstalter verschuldet wurde: Er haftet verschuldensunabhängig. Seine Haftung wäre nur ausgeschlossen, wenn die Nichterbringung oder mangelhafte Erbringung von Reiseleistungen dem Reisenden zuzurechnen ist, was im vom EuGH entschiedenen Fall nicht gegeben war. Laut EuGH ist es auch unerheblich, dass nicht nur am Reiseziel, sondern auch am Wohnort des Reisenden Corona-Maßnahmen galten. 
Für die Berechnung der Minderung muss der Wert der Leistungen festgestellt werden, deren Vertragswidrigkeit festgestellt wurde. Dabei weist der EuGH darauf hin, dass die sich aus dem Pauschalreisevertrag ergebenden Verpflichtungen des Veranstalters nicht nur diejenigen umfassen, die ausdrücklich im Vertrag vereinbart sind, sondern auch diejenigen, die damit zusammenhängen und sich aus dem Ziel des Vertrages ergeben. Hierzu müssen nun die deutschen Gerichte – im konkreten Fall das Landgericht München I – entscheiden, ob zum Beispiel die Sperrung des Pools, das Fehlen eines Animationsprogramms oder die Unmöglichkeit des Zugangs zum Strand oder von Ausflügen eine Nichterbringung oder mangelhafte Erbringung von Reiseleistungen sind.
Dieser Artikel soll − als Service der IHK Köln − nur erste Hinweise geben und erhebt daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Stand: März 2024
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